Die ewige Verlockung des zweiten Marshmallows: Wird das Marshmallow-Kind irgendwann zum Hedonisten?

Wir kennen sie alle, die Geschichte vom Marshmallow-Test. Jenes berühmte Experiment, das uns gelehrt hat, wie die Fähigkeit zum Belohnungsaufschub – das Warten auf den zweiten Marshmallow – mit späterem Erfolg im Leben korreliert. Ich selbst habe mich oft als ein solches „Marshmallow-Kind“ gesehen, zumindest in vielen Lebensbereichen. Immer noch ein bisschen mehr sparen, noch ein Projekt fertigstellen, bevor die „richtige“ Entspannung kommt, noch ein Ziel erreichen, bevor man sich wirklich etwas gönnt. Disziplin, Ausdauer, das stetige Streben nach dem optimierten Selbst und der besseren Zukunft.

Aber während man so geduldig auf den zweiten, dritten oder gar zehnten Marshmallow wartet, nagt irgendwann eine Frage am Hinterkopf: Wann, bitteschön, wird der erste denn eigentlich mal gegessen? Und schmeckt er dann überhaupt noch, wenn man so lange gewartet hat, dass die Vorfreude längst der Gewohnheit des Wartens gewichen ist?

Die Gefahr des ewigen Marshmallow-Kindes ist subtil. Es ist ja keine offensichtlich schlechte Eigenschaft, diszipliniert und zukunftsorientiert zu sein. Im Gegenteil, unsere Gesellschaft feiert das. Doch ich habe mich oft gefragt, ob dieser Mechanismus, einmal internalisiert, nicht zu einer Art Lebensautopilot wird. Man verschiebt Genuss und Freude so konsequent auf „später“, dass das „Jetzt“ zu einer reinen Durchgangsstation verkommt, einem Mittel zum Zweck. Die Ironie dabei: Das „Später“, für das man all die Entbehrungen auf sich nimmt, wird ja auch irgendwann zum „Jetzt“. Und was dann? Beginnt das Spiel von Neuem?

Ich glaube, es gibt einen Punkt, eine Art Kippmoment oder eine langsame Erkenntnis, an dem das Marshmallow-Kind beginnt, die Sinnhaftigkeit seines ständigen Aufschubs zu hinterfragen. Vielleicht ist es die Erfahrung, dass erreichte Ziele nicht die erwartete, lang anhaltende Erfüllung bringen. Vielleicht ist es die Konfrontation mit der eigenen Endlichkeit, sei es durch eine Krise, das Älterwerden oder einfach nur ein tiefes Innehalten. Vielleicht ist es auch schlichte Erschöpfung – der Akku ist leer, und die Aussicht auf den nächsten, noch größeren Marshmallow-Berg lockt nicht mehr.

Und hier kommt der „Hedonist“ ins Spiel. Wird das disziplinierte Marshmallow-Kind, das so lange auf Genuss verzichtet hat, plötzlich zum zügellosen Hedonisten, der alles nachholt, was er verpasst zu haben glaubt? Stürzt es sich kopfüber in die unmittelbare Bedürfnisbefriedigung, weil das Pendel nun ins andere Extrem ausschlägt?

Ich glaube, das ist eine mögliche Reaktion, aber nicht die zwangsläufige – und vielleicht auch nicht die gesündeste. Es wäre eine Art Kompensation, ein Aufbäumen gegen die jahrelange Selbstkasteiung. Man könnte sich vorstellen, wie jemand, der sich immer alles verkniffen hat, plötzlich hemmungslos konsumiert, reist, feiert – als gäbe es kein Morgen mehr. Weil er gemerkt hat, dass das „Morgen“, auf das er immer gewartet hat, nie die erhoffte Erlösung brachte.

Persönlich glaube ich aber eher an eine andere Transformation, eine reifere Form des „Genießenlernens“. Es geht weniger darum, zum reinen Hedonisten im Sinne von Genusssucht zu werden, als vielmehr darum, eine bewusste Balance zu finden. Das ehemalige Marshmallow-Kind hat ja wertvolle Fähigkeiten erlernt: Selbstkontrolle, Planung, das Verfolgen langfristiger Ziele. Diese muss es nicht über Bord werfen.

Die Herausforderung und die Kunst bestehen darin, diese Fähigkeiten nun anders einzusetzen:

  1. Bewusstes Genießen: Zu lernen, den einen Marshmallow, der jetzt vor einem liegt, wirklich zu schmecken und wertzuschätzen, ohne schon an den nächsten zu denken oder ein schlechtes Gewissen zu haben.
  2. Prioritäten verschieben: Zu erkennen, dass Lebensqualität nicht nur aus erreichten Zielen, sondern auch aus erlebten Momenten besteht.
  3. „Geplanter Hedonismus“ oder „verdiente Belohnung“: Sich bewusst Freiräume für Genuss zu schaffen, sie als festen Bestandteil des Lebens einzuplanen, nicht als Ausnahme von der Regel.
  4. Die Relativität des „Mehr“: Zu verstehen, dass „mehr“ nicht immer „besser“ ist und dass das Streben nach dem nächsten Marshmallow ab einem gewissen Punkt keinen zusätzlichen Nutzen mehr stiftet, sondern Lebenszeit kostet.

Vielleicht wird das Marshmallow-Kind also nicht zum Hedonisten im klischeehaften Sinne. Vielleicht wird es zu einem weiseren Genießer – jemand, der die Kunst des Belohnungsaufschubs immer noch beherrscht, sie aber nicht mehr als Standardeinstellung für das gesamte Leben sieht. Jemand, der gelernt hat, dass der größte Schatz nicht im endlosen Ansammeln von Marshmallows liegt, sondern in der Fähigkeit, im richtigen Moment mit vollem Herzen einen zu genießen.

Für mich persönlich ist das ein andauernder Lernprozess. Ein Austarieren zwischen dem Wunsch, etwas zu gestalten und zu erreichen, und dem Bedürfnis, das Leben im Hier und Jetzt nicht zu verpassen. Es ist die Suche nach dem Punkt, an dem der zweite Marshmallow nicht mehr die Verheißung einer besseren Zukunft ist, sondern die süße Ergänzung zu einem bereits genossenen ersten. Und manchmal, ja manchmal, reicht auch einfach nur ein einziger, perfekt getimter Marshmallow.